Vom Glauben und Wissen

Offener Brief an Norbert Weidner

Brieftext Impressum
To: Norbert Weidner
From: Bertram Scharpf
Subject: Vom Glauben und Wissen
Date: 6. Mai 2012
„Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts in der Welt; und diese Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt.“
Bismarck im Reichstag am 6. Februar 1888

Sehr geehrter Herr Verbandsbruder Weidner,

ihren vielbeachteten Leserbrief an die Bundeszeitung der Burschenschaft der Raczeks habe ich vor mir. Gerührt lese ich den Satz, in dem Sie sich „als Nichtreligiöser und eher den Naturwissenschaften zugeneigter Zeitgenosse“ bekennen. Religion und Naturwissenschaft im Widerspruch, was für ein origineller Gedanke. Wo haben Sie den her? Aus dem Film „Planet der Affen“?

Leider habe ich schlechte Nachrichten für Sie: Da sind Sie einer Wandersage aufgesessen. So leistungsfähig, wie Sie es den Naturwissenschaften unterstellen, sind diese nicht. Der Naturwissenschaftler formuliert lediglich Theorien, mit denen er die Ergebnisse klar definierter Meßanordnungen versucht möglichst genau vorherzusagen. Eine Theorie kann nur besser sein als bisherige Theorien; eine Endgültigkeit wird keine Theorie jemals erreichen. Ständig werden neue Phänomene entdeckt, die neue Theorien erforderlich machen. Zudem unterliegen alle Meßverfahren mindestens technischen, wenn nicht sogar immanenten Grenzen. Wenn Sie wirklich den Naturwissenschaften zugeneigt sind, müssen Sie das wissen.

Naturwissenschaften können gar kein Ersatz für einen Glauben sein. Was wir für Wissen halten, ist nicht mehr als eine Reihe von Theorien, die jeweils nur einen Teil der Realität abbilden. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Glauben und Nichtglauben. Es gibt nur den Gegensatz zwischen denen, die sich der Begrenztheit ihrer Erkenntnisfähigkeit bewußt sind, und denen, die das nicht zugeben. Im übrigen ist der von Ihnen konstruierte Unterschied zwischen Glaubenden und Wissenden selber nichts weiter als eine Theorie, die die Wirklichkeit nur partiell erfaßt.

In den Geschichtswissenschaften, von denen ich Ihnen nicht abspreche, ihnen zugeneigt zu sein, ist Ihnen der nichtabsolute Charakter von Theorien aufgefallen und Sie nehmen ihn für sich in Anspruch, wogegen ich nichts einzuwenden habe. Jedoch haben Sie eine großartige Gelegenheit verpaßt. Die am Zeitgeist orientierte Geschichtsforschung stellt bedingungslos eine einseitige Schuld der deutschen Machthaber an den Kriegsgreueln fest. Hätten Sie sich ein wenig mit Spieltheorie befaßt und damit, was eine Abschüssige Bahn ist, wüßten Sie, daß eine einseitige Schuldzuweisung ein wenig leistungsfähiges Erklärungsmodell ist. Oder, um Sie nicht mit den mathematischen Feinheiten zu behelligen, lassen Sie mich es durch den von Ihnen so gern zitierten Schiller sagen: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären.“ Die Mühe, eine umfassendere Theorie aufzustellen, machen Sie sich nicht. Stattdessen begehen Sie denselben Fehler wie die folkloristische Geschichtsdarstellung und verlieren sich in einer, wenn auch andersherum ausfallenden Schuldzuweisung.

Um das Verzeichnis der von Ihnen etwas eigenwillig behandelten Wissenschaften zu vervollständigen, versuchen Sie sich noch im Recht. Offensichtlich haben Sie sich nicht mit Vernehmungs-, Glaubwürdigkeits- und Beweislehre befaßt, die in dem gleichnamigen Lehrbuch von Bender und Nack beginnt mit dem schönen Satz: „Der größte Feind der Wahrheit ist nicht die Lüge, sondern der Irrtum.“ Auch im Recht ist die Erfassung der Realität nicht frei von Fehlerquellen. Weiterhin kümmert es Sie wenig, daß Gesetze nur menschengemachte Texte sind, zu denen es immer eine herrschende und mindestens eine Mindermeinung gibt. Eine Absolutheit entsteht erst durch das Urteil eines Gerichts, das wiederum nie frei von Subjektivität sein kann. Im Fall der fraglichen Geschichtsperiode stand zudem die richterliche Unabhängigkeit nicht sonderlich hoch im Kurs, was eine rein juristische Betrachtung gänzlich unmöglich macht.

Vergessen wir für einen Augenblick den vagen Charakter wissenschaftlicher Theorien. Wenn Sie alle Geheimnisse wüßten und alle Erkenntnis hätten, was wäre es Ihnen nütze? Ich gehe davon aus, Sie möchten Menschen überzeugen, sonst schrieben Sie nicht so engagiert. Nur: Wen wollen Sie wovon überzeugen, so wie Sie Ihre Leser behandeln? Sie lassen den Leser nicht teilhaben an Ihren historischen Recherchen, an der Auswahl der Quellen oder an der Gewichtung von Einzelheiten. Sie konfrontieren den Leser mit dem fertigen Bild Ihrer Ergebnisse. Für einen Nichtgläubigen verlangen Sie Ihrem Leser ein bißchen viel Gläubigkeit ab. Sie schreiben Passagen wie: „[...] nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, also mitten im Krieg, [...]“. Nichteinmal die Schlußfolgerung, daß nach Beginn mittendrin ist, trauen Sie Ihrem Leser zu. Erwarten Sie ernsthaft, das Vertrauen eines einzigen Lesers zu gewinnen, indem Sie selber ihm nichts als Mißtrauen entgegenbringen? Ihr Wohlwollen in der Sache beweisen Sie am besten durch Ihr Wohlwollen dem Leser gegenüber. Oder sind Sie überzeugt, daß Sie auserwählt sind Menschen zu belehren? Das wäre nämlich wiederum nur durch einen Glaubenssatz zu rechtfertigen.

Als jemand, der selber stets an das Gute im Menschen glaubt, befürworte ich die freie Meinungsäußerung unbedingt. Daß Sie Ihre Meinung nicht äußeren Zwängen unterwerfen wollen, dafür habe ich Verständnis. Die Zwänge allerdings, die Sorgfalt und Disziplin in wissenschaftlichem Arbeiten, Achtung vor anderen Meinungen und Gottvertrauen in eine gedeihliche Entwicklung auferlegen, machen den Menschen nicht unfreier, sondern freier. Etwas poetischer formuliert finden Sie diesen Gedanken in Spr. 16,32: „Wer sich selbst beherrscht, ist besser als einer, der Städte gewinnt.“ In diesem Sinne wünsche ich Ihren zukünftigen geschichtswissenschaftlichen Bemühungen Gottes Segen.

Mit verbandsbrüderlichem und burschenschaftlichem Gruß

Bertram Scharpf Hv!
(Hilaritas Stuttgart, WS 1985/86)

 

P.S.: Einen Gruß und Glückwunsch an Ihren Unterstützer Dr. Rode. Indem er gänzlich auf eine wissenschaftliche Betrachtung der Kritik an Ihrem Leserbrief verzichtet und sich in romantisierender Weise nur noch der emotionalen Komponente widmet, hat er sich zweifellos in die Sphären der jüngeren deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger aufgeschwungen.


Verteiler und technische Hinweise

Dieses Schreiben richte ich per Netzpost an Sie, Herr Weidner. In optisch etwas aufbreiteter Form veröffentliche ich es an folgenden Netzorten:

Diese Verweise sende ich weiterhin mit der Bitte um Verbreitung an meinen eigenen Bund, an den Aufruf zu Ihrer Entfernung aus dem Amt des Schriftleiters der Burschenschaftlichen Blätter (den auch ich unterschrieben habe) und an Ihre Kritiker in einer anderen Angelegenheit aus der Braunschweiger Germania, die Sie dem Vernehmen nach gerade mit einem Ehrenverfahren überziehen.

Etwaige Antworten von Ihnen, Herr Weidner, und anderen Empfängern oder Lesern behalte ich mir vor unter selbigem Netzverweis zu veröffentlichen. Zuschriften bitte ich um eine Aussage, ob mir deren Veröffentlichung namentlich oder nichtnamentlich gestattet ist.

Dieses Schreiben darf elektronisch und in Papierform vervielfältigt und verteilt werden. In allen Fällen untersage ich jedoch eine Umstellung auf die sogenannte reformierte Rechtschreibung sowie eine Wiedergabe in einem Microsoft-Word-Format (.doc oder .docx).

Dieses Dokument wurde möglich durch den Editor Vim.