Die Empörungswelle hat gefruchtet und der „Echo“ wurde abgeschafft. Nun ist wieder alles in Butter und wir können weitermachen wie bisher. Oder sollte der Skandal etwa tiefergehende Mißstände zur Ursache gehabt haben?

Es ist die Banalität

Der Komiker Oliver Polak hatte seinen Kommentar in der „Welt“ zur „Echo“-Verleihung mit dem Wunsch geschlossen, seinen Text häbe besser nicht er, sondern ein nicht-jüdischer deutscher Redakteur mit mindestens einem Nazi-Opa geschrieben. Dies betraf mich insofern nicht, daß ich kein Redakteur bin. Allerdings habe ich bisher keinen Kommentar gelesen, von dem ich sehe, wie er Polaks Anspruch genügen soll. Also will ich es doch selber mal probieren.

Die meisten Kommentare bleiben stecken in einer Empörung über die antisemitischen Äußerungen und leiten daraus eine Notwendigkeit ab zur Sanktionierung derselben. Ich teile diese Empörung nicht. Der schlichte Geist sucht eben die Schuld für seinen beschränkten Erfolg weniger im Mangel am eigenen Bemühen, sondern beim störenden Einfluß der Erfolgreichen. So wie der Stadionbesucher, dessen Verein alle paar Jahre gegen den Abstieg spielt, zuerst schimpft auf die Scheiß-Bayern. Höchst fraglich, ob diesem Verhaltensmuster mit Verboten beizukommen ist. Der mit dem Verbot Belegte weiß ja, wo der Schuldige zu suchen ist. Zudem neigen Persönlichkeiten gerade aus dem Räpper-Umfeld erfahrungsgemäß dazu, die Empörung, die sie ausgelöst haben, als Beleg für die eigene Wichtigkeit umzuinterpretieren. Sich über ihre Unflätigkeiten zu ärgern, ist wenig hilfreich. Man sollte sie noch nichteinmal ignorieren.

Schon eher Anlaß für mich zur Empörung ist die Verlogenheit. Vor wenigen Jahren noch wurde die Gruppe Frei-Wild vom „Echo“ ausgeladen, weil sie zu „rechts“ gewesen sei. Jetzt entschuldigt man ausgerechnet antisemitische Äußerungen mit künstlerischer Freiheit. Also wenn diese (nach landläufiger Definition) nicht „rechts“ sind, was dann? Außerdem ist es Messen mit zweierlei Maß; kämen die Texte wortgleich von Frei-Wild, sie wären längst beschlagnahmt und die Musiker würden geteert und gefedert. Wiederum empörender ist die Verlogenheit des selbstbeweihräuchernden Gedenkens. Seit Jahren wird unser Land zugepflastert mit Mahnmalen für tote Juden; und die Leute, die sie aufstellen, fühlen sich sauwohl dabei. Zumindest solange sie sich nicht zu aktuellen Vorgängen äußern oder gar eingreifen müssen. Sobald es sie mehr kostet als anderer Leute Geld, ist es mit der Solidarität vorbei. Junge Menschen haben ein sehr feines Gespür für Verlogenheit, und sie werden denen, die sie da erziehen wollen, bald vollends nichts mehr abkaufen. Daß sich die „Echo“-Gremien jetzt dem Druck gebeugt haben und den Preis abschaffen, ist auch nicht gerade die geeignete Maßnahme, verlorenen Respekt zurückzugewinnen.

Die antisemitischen Inhalte der prämierten Produktionen als künstlerische Freiheit zu betrachten ist andererseits konsequent, wenn man sich anschaut, was man diesen Künstlern bisher alles hat durchgehen lassen. Fragen Sie mal einen dieser Räpper, wie viele Kreuze G-Dur hat oder was eine Punktierung ist. Auch ist es schwer vorstellbar, daß einer von ihnen die Disziplin aufbringt, an einem Instrument nur eine Stunde täglich zu üben. Dafür leiern sie Texte herunter, die nicht wie ein Gedicht viel Inhalt auf wenig Form verdichten, sondern Trivialitäten auf viele Wörter ausdehnen, was also eher die Bezeichnung Gebläh verdient. Kein Beherrschen des Handwerkszeugs, keine Stringenz im Denken: Wenn bei soviel Banalität nachher antisemitische Äußerungen herauskommen, braucht sich niemand zu wundern.

Beschämend ist, daß solch banale und lernfaule Menschen im Sinne einer falsch verstandenen Menschenfreundlichkeit in den Kulturbetrieb inkludiert werden. Niemand traut sich mehr, auch noch so geringe Ansprüche zu stellen. Ansprüche zu stellen ist wahrscheinlich irgendwie „rechts“. Wir müssen alle liebhaben, und liebhaben heißt, jede noch so bescheidene Leistung als schützenswertes Kulturgut einzustufen. Nur einen dürfen wir nicht liebhaben: den, der noch Ansprüche stellt. Zum Dank für sein Mitwirken daran oder wenigstens für seine Loyalität muß der Einzelne dann immer weniger leisten und lernen. Ein perfekt organisiertes Gefangenendilemma, aber es merkt ja niemand, denn, was ein Gefangenendilemma ist, ist ein wissenschaftlich viel zu anspruchsvolles Thema.

Vor einigen Jahren hatte schon der Kabarettist Sebastian Krämer treffend festgestellt: „Deutschlehrer1: Ihr hättet die Neue Rechtschreibung verhindern können. […​] Ihr hättet Bushido verhindern können.“ Ja, die sogenannte Rechtschreibreform hat es zementiert: Wenn die Lichter ausgehen, erklärt man die Dunkelheit zum Standard.

Daß es neuerlich wieder gegen die Juden geht, ist vor diesem Hintergrund alles andere als ein Zufall, stellt doch die jüdische Erziehungstradition die höchsten Ansprüche, und sie denkt nicht daran, diese nach unten anzugleichen.

Darüber bin ich vollends empört: Jahrelang, jahrzehntelang haben wir zugelassen, daß das Niveau sinkt und sinkt. Einige wenige hatten den Durchblick, haben sich aber nicht getraut aufzustehen. Die Mehrheit hat dagesessen wie das Kaninchen vor der Schlange. Jetzt haben wir den Salat. Es ist verlogen zu glauben, wir bekämen dieses Problem in den Griff, indem wir ein paar neue Verbote aussprechen und durchsetzen. Mittelfristig wird niemand mehr diese Verbote ernstnehmen, und keiner mehr wird in der Lage sein, sie zu organisieren.

In diesem Zusammenhang fällt mir nur noch das Zitat des jüdischen Künstlers Max Liebermann ein, der es sich bei seinem Intellekt übrigens leisten konnte, auch mal eine derbe Wortwahl zu treffen: Ich kann nicht so viel fressen und saufen, wie ich kotzen möchte.